Die Jahreslosung 2016 stammt aus Jesaja 66,13 und lautet „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“
Was mir bei diesem Wort auffällt und mich erstaunt ist die Tatsache, dass im Wesen Gottes, unseres Va-ters, offensichtlich mütterliche Anteile vorhanden sind. Wir haben eben einen Gott, der sich seiner Kinder herzlich annimmt, und zwar auch mit mütterlichen Gefühlen und mütterlichem Engagement. Darum habe ich auch gleich ein Bild vor meinem geistigen Auge: Da sitzt ein Kind, über dessen Gesicht Tränen rin-nen, auf dem Schoß der Mutter. Ihre Arme umschlingen liebevoll das Kind, und indem sie es auf ihrem Schoß wiegt, flüstert sie ihm trostvolle Worte zu. Daher dauert es auch nicht lange, bis die kleine Person trotz der Tränen auf den Wangen wieder zu lächeln beginnt.
Das ist in unser aller Leben schon oft so gewesen. Aber was geschieht, wenn wir erwachsen werden? Wenn die Nöte nicht mehr kindlich sind? Wenn sie sich aus- und weit über uns hinauswachsen? Und wenn dann keine menschliche Mutter mehr da ist? Können wir auch dann noch getröstet werden? Was tun, wenn z.B. eine Liebesbeziehung auseinander bricht? Wenn sich Ehepartner trennen und die Kinder innerlich zerrissen sind? Oder wenn uns ein geliebter Mensch von der Seite genommen wird? Ist dann Trost noch so einfach möglich?
Dann ist es wichtig, dass es Menschen gibt, die uns den göttlichen Trost liebevoll zusprechen. Dann dür-fen wir trotz Brüchen und Verlusten im Dennoch des Glaubens anfangen, wieder zaghafte Schritte zu gehen.
Aber funktioniert das immer? Es gibt Ereignisse und ein Schuldigwerden, nach denen ein Trost völlig unmöglich erscheint. Dies ist mir so sehr bewusst geworden, als ich vor Tagen folgende Geschichte im Neukirchner Kalender las:
„Bahnhof Rüsselsheim, 2. Februar 1990. Der Berufsverkehr ist im vollen Gange. Routine für Lokführer Helmut Hosch. Er fährt los, übersieht aber ein Haltesignal. Eine andere S-Bahn kommt entgegen. Die Züge stoßen frontal zusammen. 17 Menschen können nur noch tot geborgen werden, etwa 90 sind verletzt, auch Helmut Hosch. Für den überzeugten Christen bricht die Welt zusammen. Am Morgen hat er noch gebetet, und nun das. Wo war Gott? Wohin mit diesem Versagen? „Wir verzeihen niemals“, titelt eine Boulevardzeitung. Hosch muss sich vor Gericht verantworten. Das Urteil: 10 Monate Haft auf Bewährung und eine Geldstrafe.“
Auch solche aus menschlichem Versagen hervorgebrachten Katastrophen gibt es immer wieder. Gott möge uns alle davor bewahren! Ist in solchem Fall Vergebung unmöglich?
NEIN! Gerade hier greift dann das Wort aus der Jahreslosung 2016. Hosch wird dieses niederschmettern-de Erlebnis nie mehr los, aber er darf lernen, aus Gottes Gnade und Vergebung damit zu leben. Das ist schwer genug. Und er weiß auch, dass sein Leben ohne Vergebung keinen Sinn mehr macht. Er kann sich nur an Gottes Barmherzigkeit hängen und auf das Wort des Lebens vertrauen: „dass, wenn unser eigenes Herz uns verdammt, Gott größer ist als unser Herz.“(1.Johannes 3, 20)
Das ist Vergebung, mit der man im Dennoch des Glaubens leben kann. Auch dann, wenn man nichts mehr gutmachen kann. Es bleibt bestehen, was Paulus uns in Römer 8 gegen alle Gewissensnot ein-schärft: Nichts vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus feststeht, unserem Herrn.
Einen solchen trostvollen Glauben, auch angesichts unseres vielfältigen Versagens, wünsche ich im Hinblick auf die neue Jahreslosung euch und mir.
Euer H.-J. Freund, Pfarrer