Lange habe ich überlegt, ob ich dieses Erlebnis wirklich weitererzählen soll, aber in Zeiten der verschließbaren Büromöbel dürfte es sich kaum wiederholen, deshalb: „Charis!!!“ Ein schriller Schrei durchgellt das abendliche Pfarrhaus. „Was hast du da wieder angestellt!“Verärgert und verstört poltert die 13-jährige Tochter die steile Stiege herunter.Das Corpus delicti befindet sich auf dem Schreibtisch in der Kanzlei – ein „Tschutscher“ (sprich Lutscher), wie ihn einer der jüngsten Kindergottesdienstteilnehmer zu nennen pflegt.Aber diesmal gleicht diese süße Nachkirchenbelohnung, säuberlich zwischen die pfarramtlichen Kugelschreiber gesteckt, nicht einem begehrenswerten Objekt kindlicher Begierde. Vielmehr hängt das Verpackungspapier der süßen runden Kugel in zahlreichen, hässlichen Fetzchen herab und verunziert sogar Vaters Schreibunterlage.Die Tochter beteuert ihre Unschuld. Der Vater, ebenfalls durch den mütterlichen Zornesschrei alarmiert herbeigeeilt, schöpft einen Verdacht. Sollte vielleicht? Entsetzlich! Undenkbar!Die Familie begibt sich auf Spurensuche. Zunächst ohne Erfolg. Aber gerade, als man die ergebnislose Suchaktion beenden und zur Tagesordnung übergehen will, geschieht das zwar irgendwie Befürchtete, aber dennoch Unerwartete. Das Abendmahlsgeschirr ist für den sonntäglichen Gottesdienst in der Außenstation zu packen. Und Kelch, Krug, Patene und Tücher, aber auch Hostien und Brot für die Kinder befinden sich ganz oben im Abendmahlsschrank. Gott sei Dank ist der Vater noch in der Nähe, um das erneute und vertiefte Entsetzen der Mutter abzufangen und mit den Worten „Ich helfe dir“ in erträgliche Bahnen zu lenken. DENN: Der Abendmahlsschrank scheint offensichtlich einen – wenn auch absolut unerwünschten- Bewohner gefunden zu haben. Sei es, dass die ebenerdig angelegten Rückfenster ihm Einlass gewährt haben, sei es, dass er, von den Erntedankgaben angelockt, die Gelegenheit der geöffneten Kirchentür genutzt haben mag, jedenfalls sind alle Anzeichen seines Vorhandenseins am Schrankinnern abzulesen.. ER, die Kirchenmaus, - BELSAZAR.Dass es sich um einen männlichen Genossen seiner Art handeln muss, bestätigte der fachkundige Vater. (Schließlich hatte er ja seine Bubenjahre im Wald bei der Beobachtung wilder Tiere verbracht).Die versprochene gemeinsame Säuberungsaktion wird sogleich in Angriff genommen. Tücher wandern, teils in den Mülleimer, teils zur Kochwäsche. Sämtliches Geschirr beschließt man von Hand, kochend heiß, abzuspülen und zu desinfizieren, - als das „Unfassbare“ in Form eines dunkelgrauen Mäuseschwanzes blitzschnell hinter einer Vorratsdose sichtbar wird, um im selben Augenblick mit einem gewagten Sprung die Flucht nach vorne in die2. Schrankhälfte zu den nahrungsmäßig eher unergiebigen Kirchenbeitragsunterlagen anzutreten. –Diese Dreistigkeit dünkt nun aber auch den Hausherrn und geistlichen Leiter der Gemeinde als zu unverschämt, um sie ungesühnt zu lassen. Woraufhin er sich, - trotz lautstarken Protestes der wieder herbeigeeilten Tochter -, zu einem harten Urteil gezwungen sieht. -- BELSAZAR ward aber, in selbiger Nacht, vom Pfarrer selber umgebracht! -
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